„Holla borolla“: Ziegelerdens Erstkommunionkinder
tragen den „Tod“ aus dem Dorf
In Ziegelerden hat sich bis in unsere Zeit der alte Brauch des Todaustragens („Tuodla-“ oder „Tuodela-Naustroung“) erhalten, der im Allgemeinen mit dem Mittfastensonntag Lätare in Verbindung steht, hier aber erst am nachfolgenden Wochenende (Sonntag Judika) ausgeübt wird. Dabei ziehen die Erstkommunionkinder am Samstag mit einer in einem Bollerwagen mitgeführten, den zuletzt verstorbenen Dorfbewohner symbolisierenden Lattenkreuz-Strohpuppe durch das Dorf und verlangen „holla borolla a bissela Lumpm“ (Lumpen). Mit diesen wird die Puppe bekleidet, aus dem Dorf gefahren und in einem Gewässer versenkt oder – wie in letzter Zeit üblich – verbrannt. Am Sonntag lassen sich die Kinder dafür mit Eiern und Geld belohnen. Wieder durch das Dorf ziehend, singen sie zu diesem Zweck: „Hoam me es Tuodela nausgetroung, wöll me Eie oude Geld hou.“
Bilder vom Ziegelerdener Todaustragen im Jahr 2008 und in einigen der Vorjahre sind unterhalb dieses Textbeitrags zu finden.
Der Neuen Presse Kronach vom 6. März 1954 ist zu entnehmen, dass sich das ritualisierte Bitten der Kinder seinerzeit auf „a poa Eie, a bissla Butte und an Dreie“ oder eben auf Eier und Geld beziehen konnte. Weiter schrieb die Zeitung damals: „Die gesammelten Dinge werden an die Beichtkinder verteilt, deren Eltern dadurch eine große Erleichterung haben bei der Zurüstung zu diesem großen Tag“ (dem Tag der Erstkommunion). Auch galt damals noch: „Die Ziegelerdener tragen ihr ‚Tuodla’ den ganzen Berg zur ‚Schleif’ hinunter. Auf dem Rückweg ziehen sie wieder ins Dorf und singen dabei: ‚Hoam me es Tuodla nausgetroung, Veichela hoam me gfunna, die Sunna wädd ball kumma…’ “ An dieser Stelle schlossen sich die oben genannten Bitten um die Gaben der Bewohner an.
Todaustragen und Winteraustreiben
Laut „Meyers Lexikon online“ handelt es sich beim Todaustragen um den seit dem 14. Jahrhundert bezeugten, aus den Pestnöten hervorgegangenen Frühlingsbrauch, „am Sonntag Lätare eine als Tod bezeichnete Puppe zu ertränken oder zu verbrennen“. Das Todaustragen habe sich im 16. Jahrhundert mit dem Brauch des Winteraustreibens bzw. Sommereinholens verbunden; „über heimatkundliche Literatur“ des späten 18. Jahrhunderts seien beide Bräuche gleichgesetzt worden. Dem Brauch des Todaustragens wird es nicht gerecht, wenn man ihn – wie das heute mitunter geschieht – lediglich als ein Überbleibsel heidnischer Frühlingsfeste ansieht, denn Einflüsse des Christentums (siehe unten) und Pestepidemien dürften wesentlichere Rollen im Werdegang dieses Brauchs gespielt haben.
Das Todaustragen wurde in vielen verschiedenen Variationen zelebriert. Die jeweiligen Zeremonien wiesen teilweise bereits von Dorf zu Dorf Unterschiede auf. Mancherorts hat sich bis in die Gegenwart das eigentliche Austragen des Todes erhalten, in anderen Gegenden steht der Wettstreit zwischen Winter und Sommer im Vordergrund, den der Winter immer verliert. Im Landkreis Kronach gibt es das alljährliche Todaustragen nur noch in Ziegelerden, Dörfles und Knellendorf, wobei im letztgenannten Ort vom „Hejfatuodla“ die Rede ist.
„Kleinostern“ und die Vorfreude
Der christliche Sinngehalt, der dem Todaustragen innewohnt, erschließt sich aus dem liturgischen Stellenwert des Sonntags Lätare – zu deutsch „Freue dich!“. Mitten in der Fasten- bzw. Passionszeit kommen – sozusagen als Vorgeschmack auf Ostern – Freude und Dankbarkeit darüber zum Ausdruck, dass Jesu Leiden und Sterben nicht sinnlos waren, sondern viel Frucht brachten. Das „Kleine Ostern“, wie der Sonntag Lätare auch genannt wird, ist eine bereits auf dem Leidensweg vernehmbare Vorankündigung des Ostersieges über den Tod. Die Zerstörung der den Tod symbolisierenden Puppe erinnert an die zentrale Verheißung der christlichen Auferstehungsbotschaft, dass als letzter Feind der Tod vernichtet wird. So wie der Glaubende bereits zu irdischen Lebzeiten (gemäß dem 1. Korintherbrief Kapitel 15 Vers 55) „Tod, wo ist dein Stachel?“ fragen kann, scheint die verniedlichende Bezeichnung „Tuodla“ dem Tod seinen Schrecken genommen zu haben. Die Eier, die die Heischeverse (Bittverse) singenden Kinder bekommen, sind Zeichen für werdendes und nach dem Tod verheißenes Leben.
In der Literatur wird der Brauch des Todaustragens auch mit der biblischen Geschichte von der Auferweckung des Jünglings von Nain (Lukas-Evangelium Kapitel 7 Verse 11 bis 17) in Verbindung gebracht, über die an Lätare häufig gepredigt wurde. Demnach konnte mit der Ausübung des Brauches veranschaulicht werden, dass Christus sich schon vor seiner Auferstehung durch die Auferweckung eines Toten als Sieger über den Tod offenbart hat. Steht am Aschermittwoch noch die menschliche Vergänglichkeit im Mittelpunkt, so ist es zu Lätare die Überwindung des Todes durch den Heiland an einer bestimmten Person, um dann am Auferstehungsfest Ostern in den endgültigen Sieg über den Tod für das ganze Menschengeschlecht einzumünden.
Zu Lätare oder zu Judika
Dass in Ziegelerden die Brauchausübung nicht zu Lätare (wegen des Brauchs übrigens auch „Todsonntag“ genannt), sondern zum nachfolgenden Sonntag Judika stattfindet, ist im historischen Vergleich nicht außergewöhnlich. So berichtete Friedrich Panzer in seinem Buch „Bayerische Sagen und Bräuche. Beitrag zur deutschen Mythologie“ (München 1855) über „Das Todaustragen in Kronach“: „14 Tage vor Ostern wurde in Kronach der Tod ausgetragen. … In den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts brach in Kronach ein großer Sterb aus, weil das Todaustragen abgekommen war. Nun wurde der Tod wieder ausgetragen und der Sterb hörte auf.“ Dazu passt der von den „Todausträgern“ (z. B. in Knellendorf) noch in der Gegenwart gesprochene Satz, der sinngemäß lautet: Hätten wir den Tod nicht ausgetragen, wäre das ganze Dorf verloren.
Heinrich Pöhlmann beschrieb in seiner „Geschichte des Marktfleckens Küps“ von 1909 das Todaustragen als einen in Oberlangenstadt, „vielleicht auch in Küps“, an Judika ausgeübten und 1805 abgeschafften Brauch in Verbindung mit Passionsliedersingen und Gedenken an Pestnöte im Dreißigjährigen Krieg. In Kronach, Neuses und anderen Orten sei – so Pöhlmann – das Todaustragen früher an Lätare praktiziert worden, was allerdings in Bezug auf Kronach im Widerspruch zu dem oben zitierten Friedrich Panzer steht.
Abschließend darf noch auf die „Heimatkundlichen Informationen für den Landkreis Kronach“ (Nr. 17) vom 1. Mai 1966 hingewiesen werden, mit denen Gudrun Koch weitere Belege für das brauchtümliche Todaustragen im Landkreis lieferte. Zum ursprünglichen Totenkult mit der Verbannung des Todes sei im Laufe der Zeit der Vegetationskult mit der Wiedererweckung der Natur gekommen, fasste die Autorin die hintergründigen Motive des „Tuodla-Naustroung“ zusammen. Am Beispiel Dörfles zeigte sie auf, dass das „Tuodla“ früher unter Beteiligung des ganzen Dorfes ausgetragen worden war; doch „ist das Brauchtum bereits in den dreißiger Jahren [des 20. Jahrhunderts] zu einem Kinderbrauchtum abgesunken“.
(Bernd Graf / 10. 5. 2008)
Die nachfolgenden Fotos von Ralf und Ingrid Völkl zeigen Szenen vom Ziegelerdener Todaustragen nach der Jahrtausendwende. Weitere Fotos (ab 2009) finden Sie hier.
Weitere Fotos (ab 2009) finden Sie hier.